Taiwan heute, 16. Jg. Nr. 2, März/ April 2003, S. 48-57
 
     
 

Bilder von einer verschwundenen Welt
Vor einem halben Jahrhundert reiste der damalige Redakteur und Fotograf Yang Chi-hsin in amtlichem Auftrag um die Insel und hielt viele Szenen des ländlichen Lebens jener Zeit auf Schwarzweißfotos fest. Heute bilden Yangs Bilder ein faszinierendes Archiv von einer Welt, die schon lange nicht mehr existiert und in Yangs Ausstellung "Zeitkapsel" wieder sichtbar gemacht wurde.
von Tilman Aretz
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Yang Chi-hsin

[Bild] Dieses Bild lässt auf den ersten Blick gleich zwei Charakteristika der Hakka-Kultur von Meinung erkennen: die von Frauen getragenen Etuiblusen und die mit Wachspapier bespannten Sonnenschirme.

Bauern tragen eine Brautsänfte durch ein Dorf mit traditionellen Häusern. Andere Bauern vor einem ähnlichen Gebäude beim Reisdreschen. Eine Straßenszene mit Fahrradrikschas. Diese und andere Bilder, die Yang Chi-hsin zwischen 1952 und 1959 an Orten auf der ganzen Insel Taiwan sowie auf Kinmen auf Zelluloid bannte, rufen bei älteren Betrachtern heute nostalgische Gefühle und Wehmut hervor, denn seit dem Beginn der rasanten Wirtschaftsentwicklung ab den sechziger Jahren hat Taiwan sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Der große Unterschied von damals zu heute lässt sich auch ohne Fotos schon an wenigen Zahlen ablesen. Damals hatte Taiwan 9 Millionen Einwohner, von denen 33 Prozent in der Landwirtschaft tätig waren. Heute leben auf der Insel 23 Millionen Menschen, doch der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt keine drei Prozent mehr. Das jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt heute über 12 000 US$, zu jener Zeit waren es gerade mal 200 US$. "Die Menschen waren damals anspruchsloser als heute", erinnert Yang sich. "Der materielle Bedarf war nicht so groß. Allerdings herrschte bei aller Armut auch kein Hunger."

Die fünfziger Jahre waren in Taiwan im Prinzip eine Phase der Ruhe nach dem Sturm. 1945 war in Taiwan die 50-jährige japanische Kolonialzeit zu Ende gegangen. Die Japaner hatten Taiwan autoritär regiert, aber andererseits die Insel wegen ihrer Bedeutung für Japans Expansion nach Südasien im Zweiten Weltkrieg industriell und infrastrukturell entwickelt. So war Taiwan zwar moderner als das chinesische Festland, doch ein Teil der Ressourcen wurde durch alliierte Bombardements kurz vor Kriegsende beschädigt, und der Rest wurde nach der Rückgabe Taiwans an China von der KMT-Regierung für den Bürgerkrieg gegen die chinesischen Kommunisten nutzbar gemacht.

Der chinesische Bürgerkrieg endete bekanntlich mit der Niederlage der Nationalisten und ihrem Rückzug nach Taiwan 1949. Mit dem Beginn des Koreakrieges 1950 wuchs Taiwans Bedeutung für die USA als antikommunistisches Bollwerk, und so schickte Washington Truppen, Material, logistische Hilfe und Geld zu der Insel.

Ein Teilbereich der amerikanischen Entwicklungshilfe für Taiwan war die Landwirtschaft. Die Arbeit der landwirtschaftlichen Entwicklung wurde von der "Gemeinsamen Kommission für ländlichen Wiederaufbau" ( Joint Commission on Rural Reconstruction, JCRR) geleitet. Die JCRR setzte sich aus amerikanischen und chinesischen Mitgliedern zusammen, doch ihre Finanzierung kam komplett aus den USA. Die Aufbauarbeit der JCRR wurde ausgiebig mit Fotografien dokumentiert, und zu diesem Zweck hatte die Behörde Yang Chi-hsin unter Vertrag genommen.

Dabei war Yang eigentlich kein Profi-Fotograf. 1923 als Sohn einer Grundbesitzerfamilie in Chingshui (Kreis Taichung) geboren, kam Yang als Fünfjähriger mit seinen Eltern nach Japan und lebte dort die folgenden zwanzig Jahre. In Japan durchlief er seine gesamte Schulbildung, einschließlich ein Studium der Anglistik und Geschichte an der Sophia University in Tokyo ab 1942. Als Yang in sein Geburtsland zurückkehrte, war es eine Reise in ein Land, das ihm fremd war und dessen Sprache er längst nicht so gut beherrschte wie Japanisch. Bis heute ist für Yang die erste Sprache Japanisch, sein Chinesisch bewertet er selbst als nicht besser als sein Englisch.

Seine Fremdsprachenkenntnisse kamen Yang in Taiwan indes sehr gelegen. Zunächst arbeitete er gut zwei Jahre als Englischlehrer an einer Mittelschule in seiner Heimatstadt Chingshui. Danach wurde er von der Zeitschrift Harvest ("Ernte-Magazin") wegen seiner Japanischkenntnisse engagiert. " Harvest war eine chinesischsprachige Zeitschrift für Bauern und die Menschen auf dem Lande", erzählt Yang. "Doch so kurz nach dem Krieg konnten viele Bauern, die im japanischen Bildungssystem erzogen worden waren, kein Chinesisch lesen, daher brauchte das Magazin jemanden, der eine Zusammenfassung der Artikel ins Japanische übersetzte."

Fotografieren hatte Yang schon als Schüler und Student in Japan als Hobby betrieben, jedoch nie eine professionelle Ausbildung darin erhalten. Immerhin beherrschte er das Entwickeln von Schwarzweiß-Filmen und war mit den erforderlichen Verfahren in einer Dunkelkammer vertraut. "Japan war damals im Bereich Fotografie weiter entwickelt als Taiwan", verrät er. Als seine Kollegen vom Harvest-Magazin von ihm geknipste Bilder sahen, fragten sie ihn, ob er nicht auch Fotos für die Zeitschrift aufnehmen wolle. Yang willigte natürlich ein.

[Bild] Bauern beim Reisdreschen in Hsiaying, Kreis Tainan. In Taiwans modernisierter Landwirtschaft bekommt man solche Szenen heute nicht mehr zu Gesicht. [1953]

In der Folgezeit erschienen immer wieder Fotos von Yang in Harvest, auch auf der Titelseite. Da Harvest unter anderem von der JCRR gesponsort wurde, wurden die Amerikaner schnell auf ihn aufmerksam. Die Qualität von Yangs Bildern beeindruckte die JCRR so sehr, dass sie ihn bald als festen Mitarbeiter von Harvest abwarb.

Insgesamt war Yang rund zehn Jahre für Harvest und die JCRR tätig. "Das war für mich die glücklichste und sorgenfreieste Zeit meines Lebens", schwärmt er. Yang erhielt ein anständiges Gehalt in US$ und wurde zudem von der Behörde mit erstklassigen Kameras wie Leica oder Rolleiflex versorgt. Langeweile kam bei dem Job ebenfalls nicht auf, die Dokumentierungsarbeit für die JCRR führte Yang in fast jeden Winkel der Insel. Diese Fahrten waren für ihn, von der Sozialisierung her eher ein Japaner als ein Taiwaner, eine Entdeckungsreise zu den eigenen Wurzeln.

In diesen Jahren schoss Yang um die 10 000 Fotos, zum Teil auch in Farbe. Die überwiegende Mehrzahl der Bilder diente der Dokumentierung von landwirtschaftlichen Studien und Wasserschutzmaßnahmen. "Wenn beispielsweise eine neue Reissorte eingeführt wurde, dann pflanzte man zuerst probeweise an, und ich fotografierte dann die verschiedenen Wachstumsphasen", berichtet Yang. "Das war aber keine künstlerische Fotografie, sondern nur für Studienzwecke." Solche Bilder wurden auch für wissenschaftliche Artikel benötigt. Doch Yangs Finger saß recht locker am Auslöser, und so entstanden neben den Dokumentarbildern zahlreiche Aufnahmen vom ländlichen Milieu jener Zeit.

Freilich war das Fotografieren damals in mehrfacher Hinsicht leichter als heute. Zum einen ließen die Menschen sich in der Regel bereitwilliger ablichten als heute, "ohne Umstand oder Pose", wie Yang es beschreibt. Zum anderen war das Land zu jener Zeit einfach "fotogener" als heute. "Die Straßen sind heute alle asphaltiert, es ist kaum noch Land da, nur noch Straßen", seufzt Yang bedauernd.

Der Wert von Yangs Bildern liegt wahrscheinlich gerade darin, dass in ihnen das Ausmaß der Veränderungen des ländlichen Taiwan von den fünfziger Jahren bis heute erkennbar ist. Doch schon während seiner Tätigkeit als JCRR-Fotograf ahnte Yang, dass eben jene Aufbautätigkeit, die er mit seiner Kamera dokumentieren sollte, das Verschwinden der alten Bauernkultur förderte. Das heutige Taiwan ist das Produkt des Zusammenpralls der traditionellen Kultur mit der modernen westlichen Kultur, und dieser Zusammenprall begann mit der Aufbauhilfe des Westens in Taiwan. Daher waren Yangs Bilder nicht nur reine Dokumentarfotos, sondern haben auch einen soziologischen und künstlerischen Wert.

Der künstlerische Wert jener Bilder war Yang damals indes wohl nicht bewusst. Immerhin fertigte er von jedem Bild einen Abzug für sein Privatarchiv an, gab diese Fotos seiner Ehefrau zur Aufbewahrung -- und dachte in den nächsten vierzig Jahren fast gar nicht mehr an die Aufnahmen. Möglicherweise wären die Bilder während dieser langen Ruheperiode sogar verloren gegangen, zumal Yang in dieser Zeit zwei Mal umzog, doch seine Frau sorgte dafür, dass die Fotos sicher verwahrt blieben.

Anfang der sechziger Jahre quittierte Yang den Dienst bei der JCRR und machte sich mit einer Werbeagentur selbständig. Zehn Jahre später folgte die Gründung einer Fahrradfabrik. Seine Tätigkeit als Geschäftsmann nahm ihn so in Anspruch, dass er praktisch gar nicht mehr zum Fotografieren kam. Erst in den späten siebziger Jahren griff er, etwa bei Geschäfts- und Urlaubsreisen, wieder öfter zur Kamera.

Mit zunehmendem Alter wuchs in Yang ein Gefühl der Nostalgie für seine Jugendzeit, und es regte sich ein neues Interesse für die Bilder, die er Jahrzehnte zuvor aufgenommen und dann beiseite gelegt hatte. "Je mehr ich mir meiner begrenzten Lebenszeit bewusst wurde, desto stärker wurde das Gefühl, eine Botschaft hinterlassen zu müssen", bekennt Yang. "Ich hoffe, dass auch künftige Generationen sich bereit finden, die Bilder anzusehen und zu verstehen." Mit der Hilfe eines befreundeten Fotografen begann er die Bilder zu sichten und zu ordnen, und schließlich waren aus Tausenden Fotos die Bilder ausgewählt, die im September/Oktober 1999 im Rahmen der Ausstellung "Zeitkapsel" im Taiwan Museum of National History der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

[Bild] Vor dem Beginn des Fernsehzeitalters waren solche Versammlungen wie hier im Stadtteil Wanhua von Taipeh, bei denen eine Person dem Publikum gegen Gebühr vorlas, überall auf der Insel sehr verbreitet. [1956]

In Taiwans Kunstszene und in Fotografenkreisen war Yang zum Zeitpunkt des Beginns der Ausstellung nahezu unbekannt. Seine Tätigkeit als Fotograf für die JCRR lag Jahrzehnte zurück, danach war er vornehmlich Geschäftsmann gewesen. Nun entpuppte er sich als Avantgardist der taiwanischen Fotografie.

Als moderner Fotograf kann Yang indes nicht bezeichnet werden. Seine Einstellung zur Fotografie ist im Grunde genommen durchaus konservativ. Zwar hat er sich der Farbfotografie nicht verschlossen, doch den neuesten Entwicklungen wie etwa der digitalen Fotografie steht er voll Skepsis gegenüber. Sein Herz gehört bis heute der Schwarzweißfotografie.

"Schwarzweißfotos bringen die Grundaussage des Bildes besser zur Geltung", erläutert Yang. "Farbe lenkt manchmal vom eigentlichen Motiv ab. Außerdem fühlt man sich zuweilen von den Farben des Motivs angezogen und macht die Aufnahme, doch das Foto macht dann gar nichts her. Auf der anderen Seite kann man in manchen Fällen mit Schwarzweiß nicht die Effekte erzielen, die mit Farbfotos möglich sind." Dennoch machte Yang bei seinen Reisen in Europa und Japan zahlreiche Farbfotos, und im Mai/Juni 2001 zeigte das Deutsche Kulturzentrum in Taipeh eine Ausstellung mit dem Titel "Meine Nostalgie für Europa" mit neueren Bildern in Schwarzweiß und in Farbe. Es war nicht die erste künstlerische Zusammenarbeit mit Deutschland -- die Ausstellung "Zeitkapsel" war im Frühjahr 2000 im Münchner Gasteig gezeigt worden.

Am liebsten fotografiert Yang Menschen in Schwarzweiß. Er arbeitet gern mit kurzen Brennweiten, was zumindest teilweise damit zusammenhängt, dass seine Sehkraft altersbedingt nachgelassen hat und das Scharfstellen mit Weitwinkelobjektiven leichter ist als mit einem Teleobjektiv. Der Landschaftsfotografie kann er nichts abgewinnen. Ein Motiv wie der Berg Fuji in Japan ist bereits unzählige Male fotografiert worden, und für Yang bietet diese Art von Fotografie nichts Neues. Ganz abgesehen davon, dass er nach eigenen Worten dafür zu alt sei -- für Landschaftsfotografie brauche man viel Ausdauer: "Man muss mitunter weit laufen und eine große Kamera wie eine Hasselblad und ein Stativ mitschleppen."

Auch heute verfügt Yang noch über ein erlesenes Sortiment erstklassiger Kleinbild- und Halbformatkameras, besitzt aber keine Digitalkamera. Der digitalen Fotografie räumt er Vorzüge bei der Archivierung und Dokumentierung ein und schließt auch nicht aus, später selbst mit einer Digitalkamera zu experimentieren. "Ich mag aber immer noch die altmodische Filmfotografie", sagt er. "Man hat dabei wirklich noch das Gefühl, das Bild zu machen. Ich glaube, bei der digitalen Fotografie hat man hinterher nicht das Gefühl, die Bilder zu besitzen."

Bewegte Bilder wie Video sind für Yang ein anderes Medium, mit dem er sich nie befasst hat. "Beim Film muss man in einem bestimmten Zeitraum etwas erzählen. Beim Fotografieren gibt es dagegen in dem Sinne keinen Anfang und kein Ende, da ist alles eins. Einen Film kann man außerdem nicht allein drehen, den muss man mit einer Gruppe machen."

Yangs Treue zur Schwarzweißfotografie ist neben dem künstlerischen Wert von Schwarzweißbildern auch auf die Art und Weise zurückzuführen, wie Yang das Fotografieren erlernte, nämlich gemeinsam mit der Dunkelkammerarbeit. "Fotografieren ist eine Sache, das Entwickeln, Vergrößern und Herstellen von Abzügen ist eine andere Sache", doziert er. "Wenn man selbst entwickeln, vergrößern und Abzüge machen kann, dann lernt man das Fotografieren ganz natürlich." Aus Altersgründen macht der 80-jährige Yang die Dunkelkammerarbeit heute aber nicht mehr selbst.

Ganz mag sich Yang jedoch noch nicht aufs Altenteil zurückziehen. Nach wie vor geht er halbtags ins Büro und kümmert sich um seine Firma. "Die eigentliche Arbeit habe ich den jüngeren Mitarbeitern und Managern übertragen", teilt er mit. So bleibt ihm immer noch Zeit zum Fotografieren. Derzeit bereitet er die Ausstellung "Zeitkapsel II" vor, die im kommenden Jahr stattfinden soll und bei der Bilder von Taiwanern gezeigt werden. Wenn Taiwan das Entwicklungstempo der letzten vierzig Jahre beibehält, dann wird in wenigen Jahrzehnten das Betrachten der Bilder von "Zeitkapsel II" sicherlich eine ebenso faszinierende Wirkung haben wie heute Yangs Aufnahmen vom ländlichen Taiwan der fünfziger Jahre.

vgl.: http://www.gio.gov.tw/info/nation/ge/fcr97/2003/2/p48.htm