sandammeer.at, Oktober 2003
 
     
 

"Die Schätze der Himmelssöhne. Die kaiserliche Sammlung des Nationalen Palastmuseums, Taipei, Taiwan"
Kaiserliche Schätze
sb

An einem milden Abend im Spätfrühling des Jahres 353 trafen sich der Beamte und Schreibkünstler Wang Hsi-chih und seine gelehrten Freunde am Orchideenpavillon (lan-t’ing) in K’uai-chi um das Reinigungsfest zu begehen und der Dichtkunst und dem Trinken zu huldigen. Man ließ sich am Ufer eines Baches nieder, deklamierte, trank und setzte kleine Weinschälchen auf Lotosblätter im Wasser eines nahen Baches. Wie es der Brauch war, musste derjenige, vor dem sie ans Ufer trieben, ein Gedicht verfassen. Wang Hsi-chih komponierte aus diesem Anlass den "Prolog zu der Zusammenkunft am Orchideenpavillon" ("Lan-t’ing hsü"), der zu einem der berühmtesten Werke der chinesischen Kalligraphie wurde.

Wie groß die Verehrung für die Meister der Schriftkunst war, beweist der T’ang-Kaiser T’ai-tsung (reg. 626-649), der verfügte, zusammen mit dem "Lan-t’ing hsü" begraben zu werden und so das Original der Nachwelt für immer entzog. Die Bedeutung von Kunst und ihrem Besitz ging für die chinesischen Kaiser jedoch weit über die ästhetische und intellektuelle Bewunderung oder den bloßen finanziellen Wert hinaus. Die kaiserlichen Kunstsammlungen besaßen stets auch hohe kulturelle und politische Symbolkraft.

Ihre Tradition reicht zurück bis in die Zeit der Shang-Dynastie (ca. 1600- ca. 1100 v. Chr.), als der Besitz von Ritualbronzen, Plänen und historischen Aufzeichnungen als sichtbarer Beweis der Legitimität der Herrschaft galt. Auch später wurde das Sammeln von Kulturschätzen als Zeichen für die Befolgung des Himmelsmandates (t’ien-ming) betrachtet, das mit dem Verlust und der Zerstreuung der Sammlung verloren gehen konnte. Herrscher neuer Dynastien bemühten sich, verlorene Kunstwerke wieder zurück zu erlangen und die Anstrengungen ihrer Vorgänger sogar noch zu übertreffen und trugen so zur im Vergleich zu den Kollektionen der europäischen oder nahöstlichen Adelsgeschlechter einzigartigen Kontinuität der Sammlung der chinesischen Kaiser bei.

Neben dieser Legitimitätsfunktion entwickelten sich über die Jahrhunderte auch das oftmals von wissenschaftlichem Interesse getragene Bewusstsein der Wichtigkeit des Erhaltens von Antikem, die Wertschätzung zeitgenössischer Künste und die Pflege der künstlerischen Praxis als Zeichen der Selbstkultivierung. Viele der chinesischen Kaiser waren nicht nur passionierte Sammler, die ihre Schätze systematisch katalogisieren und kunsthistorisch aufarbeiten ließen, sondern schufen auch selbst Kunstwerke.

Ein herausragendes Beispiel dafür war Kaiser Ch’ien-lung (reg. 1736-1795), der zu den größten Sammlerpersönlichkeiten und den produktivsten Künstlern der Weltgeschichte zählt. Die Dichtkunst mühelos zu beherrschen und feinsinnige Prosatexte verfassen zu können wurde von jedem Angehörigen der Gelehrten-Elite erwartet, und vom Kaiser als deren obersten Repräsentanten natürlich in besonderem Maße. Ch’ien-lung war in diesem Sinne der ideale Herrscher. In seinen gesammelten Schriften, die von 1749 bis 1800 in zehn Folgen erschienen, sind rund 43 800 Gedichte und 1 300 gelehrte Abhandlungen verzeichnet. Eines seiner Gedichte wurde gar in französischer Übersetzung in Europa publiziert und von Voltaire und Friedrich dem Großen diskutiert.

Die Ausübung der Kalligraphie und der Malerei gehörte ebenso wie die Dichtkunst zu den grundlegenden Fertigkeiten eines Literaten. Wie viele seiner Vorgänger übte auch Ch’ien-lung diese Künste aus, besaß doch die kaiserliche Handschrift eine magische Immanenz und wurde als eine Art Stellvertreterin des Herrschers wie er selbst mit Kotau verehrt. Dem Künstlerkaiser sind auch nach wissenschaftlichen Prinzipien erarbeitete Kataloge der Sammlung zu verdanken, der Stil der von ihm in Auftrag gegebenen Forschungen zu deren Objekten wirkt bei chinesischen Kunsthistorikern heute noch nach.

Nicht alle Kaiser gingen so verantwortungs- und respektvoll mit ihrem Erbe um. P’u-yi etwa, der letzte Kaiser der Ch’ing-Dynastie, nutzte die kaiserliche Kunstsammlung als private Geldquelle und veranstaltete nicht nur im Palast Kunstauktionen, sondern verpfändete auch Teile der Sammlung an Banken. Dynastische Wechsel, Kriege, Plünderungen und Zerstörungen durch ausländische Mächte und der Verkauf von Objekten durch eigentlich mit ihrer Bewahrung und Verwaltung beauftragte Beamte trugen ebenfalls zu Lücken in der riesigen Sammlung bei.

Trotz aller Wirren der Geschichte gelten die heute im 1925 eröffneten Palastmuseum in Taipeh verwahrten Schätze der Himmelssöhne als die weltweit umfangreichste und kostbarste Sammlung chinesischer Kunst. Ihre nahezu 700 000 Objekte umfassen Gemälde und Kalligraphien alter Meister, seltene Siegel und antike Münzen, kostbare Porzellane, archaische Ritualbronzen und Jadearbeiten, frühe Buchdrucke, Tapisserien und Bildstickereien, Lack- und Emailarbeiten, Holzschnitzereien und kunstvolle Sammelkabinette.

Zwei große Ausstellungen - vom 18. Juli bis 12. Oktober 2003 im Alten Museum in Berlin und vom 21. November 2003 bis 15. Februar 2004 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn - mit rund 400 Exponaten präsentieren auch dem europäischen Publikum eine hochkarätige Auswahl dieser Essenz der chinesischen Kunstgeschichte. Viele der Objekte, unter denen sich auch eine Steinabreibung des verschollenen "Lan-t’ing hsü" befindet, sind überhaupt erstmals im Ausland zu sehen.

Zu diesen in über zehnjähriger Vorbereitungszeit organisierten Ausstellungen erschien im Hatje Cantz Verlag ein prächtiger Kunstband, der nicht nur jedes der nach Epochen gegliederten Exponate farbig abbildet und ausführlich beschreibt, sondern auch vertiefende Aufsätze zur Sammlung der chinesischen Kaiser und ihrer manchmal abenteuerlichen Geschichte bietet. Daneben erleichtern auch für den Nicht-Kunsthistoriker interessante Textbeiträge zu einigen Kunstgattungen wie der Kalligraphie oder Malerei und zu Jade oder Bronze und anderen beliebten Werkstoffen das Verständnis der für den Laien ab und zu ein wenig enigmatischen Reize und Bedeutungsebenen der chinesischen Kunst.

Werke der Kalligraphie etwa mögen dem westlichen Betrachter zunächst als bloße Abfolge von unverständlichen Schriftzeichen erscheinen, aus denen außer einem oberflächlichen ästhetischen kein weiterer Genuss zu ziehen ist. Weiß man aber ein wenig über die Hintergründe und die Technik dieser hochgeachteten Kunst, die sich bereits im 3. Jahrhundert nach Chr. als eigenständige Kunstform etablierte, und die gesellschaftliche Stellung und das Selbstbild der Künstler Bescheid, versteht man zumindest einige der Gründe für die Wertschätzung, die nicht nur die chinesischen Kaiser für die Schriftkunst empfanden. Auch das Wissen um die der Jade bis heute zugeschrieben spirituellen Kräfte entschleiert nicht den geheimnisvollen Zauber, der etwa die archaischen Ringscheiben (pi) umgibt, sondern steigert nur noch ihre Faszination.

Basis- und Hintergrundinformationen zur chinesischen Kunst bietet der Kunstband auch durch zahlreiche Karten, welche die Geschichte des Reiches von der Frühzeit bis ins 20. Jahrhundert sowie wichtige archäologische Fundstätten und künstlerische Zentren illustrieren, und durch ausführliche weiterführende Literaturhinweise, ein Namensglossar der wichtigsten Künstler sowie die Übersetzung von Bildaufschriften, Briefen und Gedichten.

"Schätze der Himmelssöhne" ist mehr als ein bloßer, wenngleich opulenter Ausstellungskatalog. Auch ohne Besuch der Schauen in Deutschland lässt der Band den Leser einen faszinierenden Blick auf eine der ältesten Kulturen der Welt werfen und vermittelt eindrucksvoll die enorme historische Spannbreite der chinesischen Kunstgeschichte, ihre Kunstgattungen, thematische Vielfalt und stilistischen Eigenheiten und nicht zuletzt die bedeutende Rolle der chinesischen Kaiser als Sammler und Mäzene.

vgl: http://www.sandammeer.at/rezensionen/schaetzehimmelssoehne.htm