Berliner Zeitung, Freitag, 18. Juli 2003
 
     
 

TAIWAN
Die offizielle Touristin
Frank Herold

Den Regularien der hohen Diplomatie ist Genüge getan, Komplikationen sind weitgehend ausgeschlossen. Frau Wu Shu-chen ist offiziell eine einfache, 51-jährige Touristin aus Taipeh, von der Insel Taiwan, die Berlin besucht. Dabei wird sie, wo sie nun einmal da ist und ganz privat natürlich, auch an der Eröffnung einer prächtigen Ausstellung aus ihrer Heimatstadt teilnehmen. Im Alten Museum werden für einige Wochen Schätze der kaiserlichen Sammlung aus dem Palastmuseum in Taipeh zu sehen sein. Ganz normale Ereignisse? Normal wäre allenfalls, hätte es Frau Wu wie jeder anderen Touristin freigestanden, auch ihren Ehemann, Chen Shui-bian, mitzubringen.

Noch normaler - wenn es diese Steigerungsform überhaupt gibt - wäre es gewesen, wenn Chen Shui-bian die Schau, einen der Höhepunkte des Berliner Kulturjahres, eröffnet hätte. Dann jedoch wären die internationalen Verwicklungen unvermeidlich gewesen, denn Herr Chen übt ein Amt aus, das es in den Augen der Obrigkeit der Volksrepublik China und nach dem Verständnis der hohen internationalen Diplomatie gar nicht gibt: Chen Shui-bian ist der Präsident Taiwans. Die meisten Staaten verweigern ihm auf Druck Pekings die Einreise.

So kam Wu Shu-chen in eine komplizierte Rolle: Sie vertritt ihre Heimat im Ausland, ohne sie offiziell zu repräsentieren. Zu Hause repräsentiert sie natürlich auch. Und das nicht nur, sogar nicht einmal in erster Linie wegen des Amtes, das ihr Mann bekleidet. Frau Wu steht mit ihrem Lebensweg beispielhaft für die Demokratisierung, die sich in Taiwan vollzog. Der Anfang ihrer Biografie liest sich wie aus einem Roman. Das wohl behütete Mädchen aus gutem Hause verliebt sich in der Schule in einen Klassenkameraden aus ärmlichen Verhältnissen. Sie heiraten später - natürlich gegen den Willen ihrer Eltern. Er, Chen Shui-bian, wird Anwalt. Er hat Erfolg, bringt es in seiner Heimatregion zu einiger Popularität, weil er - von seiner sozial engagierten Frau gedrängt - Oppositionelle verteidigt. Zu dieser Zeit, in der Mitte der 80er-Jahre, herrscht die Guomindang noch uneingeschränkt in Taiwan. Chen will die autoritären Strukturen aufbrechen, er kandidiert für den Posten des Vorstehers im Landkreis Tainan. Das wird seiner Frau Wu zum Verhängnis. Nach einer Wahlveranstaltung wird sie von einem Lastwagen überrollt. Es kann kein Zufall sein, denn das Fahrzeug hat kein Nummernschild und es rollt drei Mal über sie hinweg. Wu Shu-chen überlebt, doch sie ist querschnittsgelähmt.

Ihr politisches Engagement endet nach dem Vorfall nicht. Als ihr Mann 1986 nach einer Verleumdungskampagne im Gefängnis landet, kandidiert Wu Shu-chen für das taiwanesische Parlament und erringt das Mandat. Nach seiner Haftentlassung führte Chen das Abgeordnetenbüro seiner Frau. Später wechseln sie die Rollen. Chen Shi-bian wird Bürgermeister in Taipeh und im Jahr 2000 Präsident Taiwans - der erste, der nicht der 55 Jahre regierenden Guomindang angehört. First Lady ist Wu Shu-chen nur zu Hause, in Berlin öffnet sich für sie keine einzige offizielle Tür. Ausgezeichnet für ihr Engagement wird sie dennoch: mit der Ehrennadel der Behindertenorganisation "Lebenshilfe".

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/261037.html