October 29, 2005:

[achtung! kunst] Grenzen des Ausstellbaren (Xiao Yu: Ruan)
 
     
 


Neue Zürcher Zeitung, 25. Oktober 2005
Grenzen des Ausstellbaren
Ewald R. Weibel

Darf Kunst etwas, was Wissenschaft nicht darf?

Vor wenigen Tagen hat die Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst im Kunstmuseum Bern ihre Pforten geschlossen. Die Diskussionen, die eine gezeigte Tier-Mensch-Chimäre entfacht hat, weisen ins Grundsätzliche. Eine der offenen Fragen lautet: Darf Kunst mehr, als die wissenschaftliche Forschung darf?

Die Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst, die vor einigen Tagen im Kunstmuseum Bern zu Ende gegangen ist, präsentierte ein Kunstwerk von Xiao Yu, das zu Kontroversen Anlass gab (NZZ 9. 8. 05): Der Künstler hatte den Kopf eines menschlichen Fötus einem Tierkadaver mit Möwenflügeln aufgesetzt. "Ruan" - so der Name des Werks - wurde zeitweise aus der Ausstellung zurückgezogen, dann aber unter besonderen Bedingungen wieder ausgestellt. Dieser Fall entspricht einer gegenwärtigen Tendenz, Kunstwerke als Installation mit irritierenden Materialien zu realisieren, etwa mit Margarine oder Hasenkot; und hier eben mit dem Kopf eines menschlichen Fötus. Dies wirft die Frage auf, ob Künstler ihre Projekte mit allen Mitteln - also etwa auch mit Teilen menschlicher Leichen - realisieren dürfen. Hätte der chine-sische Künstler seine Mensch-Tier-Chimäre in einem Gemälde verwirklicht, hätte man wohl kaum Anstoss daran ge-nommen. Es ist das "Echte", das schockiert.

Zurschaustellung von Leichenteilen

Der Künstler betätige sich "als Schöpfer neuer Wesen, deren Existenz er erforscht", wurde zu diesem Werk ausge-führt. Damit ist eine Beziehung zwischen zwei wichtigen Säulen unserer Kultur hergestellt: zwischen Kunst und Wis-senschaft. Die Freiheit beider wird in der Schweizer Bundesverfassung (Art. 20 und 21) im Sinne eines Grundrechtes gewährleistet. - Wissenschaft wie Kunst wollen Visionen verwirklichen, das Undenkbare ergründen und darstellen. Da möchte man gerne grenzenlose Freiheit gewähren. Dass diese Freiheit aber nicht grenzenlos sein kann, ist bei der Wis-senschaft offensichtlich. Man darf über fast alles forschen, doch das Gesetz setzt Grenzen, zum Beispiel bei der Stam-mzellenforschung. Man darf auch nicht auf beliebige Weise forschen; sowohl die Forschung am Menschen wie Tierversuche sind mit strengen Auflagen versehen. In der Kunst müssen die Grenzen des Darstellbaren weit offen ge-halten werden; die Kunst soll der Gesellschaft ja einen Spiegel vorhalten können, auch wenn er unbequeme Bilder zeigt. Die Frage ist aber, ob sie das mit allen Mitteln tun darf. Sollen Grenzen, die der medizinischen Wissenschaft gesetzt sind, für die Kunst nicht gelten?

Im Zusammenhang mit "Ruan" stellt sich die konkrete Frage, ob Teile von - menschlichen - Leichen zu einem Kunstwerk verarbeitet werden dürfen. In diesem Zusammenhang interessiert, wie es sich bei der Wissenschaft verhält. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat kürzlich eine neue medizinisch-ethische Richtlinie zu sogenannten Biobanken, wozu auch anatomische Sammlungen gehören, erarbeitet und zur Vernehmlassung veröffentlicht (www.samw.ch). Sie orientiert sich an dem Grundsatz, dass die Würde des Menschen zu wahren ist, auch dort, wo mit Leichenteilen gearbeitet wird. Das gilt insbesondere, wenn die Präsentation nicht auf die wissenschaftlich interessierte Fachwelt beschränkt, sondern für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich ist.

Unumstössliche Prinzipien

Hierzu hat der Arbeitskreis "Menschliche Präparate in Sammlungen" Überlegungen angestellt, die den Richtlinien der SAMW in diesem Bereich zugrunde gelegt wurden. Daraus drei unumstössliche Prinzipien: 1. Präparation, Gestaltung und Präsentation verfolgen primär das Ziel, die normalen oder allenfalls pathologischen anatomischen Strukturen sichtbar zu machen und zu vermitteln. 2. Künstlerisch verfremdete Präparate aus menschlichem Gewebe sollen weder hergestellt und aufbewahrt noch der Öffentlichkeit präsentiert werden. 3. Die Herkunft der Präparate ist zu klären (was bei alten Beständen oft nicht leicht ist). - Das sind ethisch begründete Regeln, die für die Medizin und für anatomische Sammlungen verbindlich sind. Mir scheint, dass dieselben Regeln auch für Künstler und Kunstmuseen in der Schweiz gelten müssten.

In dieser Sicht kommt unmittelbar die Frage auf, ob die weltweit gezeigte Ausstellung "Körperwelten" von Gunther von Hagens (vgl. NZZ 24. 2. 03) diesen ethischen Regeln genügt. Von Hagens' Arbeiten waren ursprünglich wissen-schaftlich orientiert und dienten als Lehrhilfen in der Ausbildung junger Ärzte in Anatomie. Die Absicht, mit diesen Präparaten einer breiteren Öffentlichkeit die Wunder der Natur anhand des inneren Aufbaus unseres eigenen Körpers zu erklären, ist durchaus vertretbar. In hohem Masse problematisch und den obigen Regeln klar widersprechend waren hingegen jene Exponate, mit denen von Hagens sich als Künstler gebärdete: Er verfremdete Präparate, etwa indem er einen Leichnam mit dem präparierten Nervensystem als Schachspieler inszenierte und ihm obendrein noch seinen Hut aufsetzte oder indem er eine schwangere Frau in der Pose der Olympia darstellte. Dies ist verwerflich.

Konsequenzen

Auch das Kunstwerk "Ruan" verstösst offensichtlich gegen die oben zitierten Regeln: Der menschliche Fötus wurde zwar vermutlich ursprünglich für die Präsentation in einem naturhistorischen Museum präpariert; der Künstler zeigt ihn aber nicht zu diesem - legitimen - Zweck, sondern er verfremdet den vom Fötus abgetrennten Kopf durch Aufnähen von "Augen" und seine Vereinigung mit Teilen von Tierkörpern. Solche Erwägungen mögen in China nicht relevant sein - was den Künstler entlasten würde und allenfalls auch den Sammler repräsentativer chinesischer Kunst. Hätte das Werk aber in der Schweiz ausgestellt werden dürfen?

Aus der Sicht der Richtlinien für Biobanken gab es in der Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst in Bern weitere Exponate, die Fragen aufwerfen, zum Beispiel das Werk "Civilization Pillar", eine Säule, angeblich aus 300 Kilogramm "menschlichem Fett gemacht, das die Künstler in Schönheitskliniken in der Gegend von Peking sammelten". Die Men-schen, von denen das Fett stammt, leben noch. Wäre das Fett für wissenschaftliche Zwecke verwendet worden, hätten die "Spender" - in der Schweiz - ihr Einverständnis geben müssen. Zudem hätte eine Ethikkommission das Projekt geneh-migen müssen. Mit welcher Begründung sollen solche Einschränkungen in der Kunst nicht gelten?

Aufgrund dieser Erwägungen gelangt man zum Schluss, dass es bei der Diskussion um die Exponate der China-Ausstellung, insbesondere bei "Ruan", nicht um die Frage der "Grenzen des Darstellbaren" ging und geht, sondern um jene ganz konkrete Frage, ob Künstler ohne ethische Grenzen menschliches "Körpermaterial", auch von Toten, zu Kunstwerken verarbeiten dürfen - und ob es zulässig ist, solche Kunstwerke einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Die allgemeine Kernfrage ist schliesslich, ob für Kunst andere ethische Wertmassstäbe gelten können als für die mediz-inische Forschung, die diesbezüglich strengen Vorschriften unterstellt ist. Diese Grundsatzfrage sollte in einem offenen Dialog zwischen Kunstverantwortlichen, Wissenschaftern und Ethikern diskutiert werden.

Der Autor ist emeritierter Professor und früherer Direktor des Anatomischen Institutes der Universität Bern sowie gewesener Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.

http://www.nzz.ch/2005/10/25/fe/articleD5MYY.html

 

 

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with kind regards,

Matthias Arnold
(Art-Eastasia list)


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