September 03, 2005:

[achtung! kunst] *Bern - Mahjong* Press announcement on "Ruan" - Pickled fetus head fuels art furor - Plädoyer für Kunstfreiheit - Signale aus der Umbruchgesellschaft - Controversial art exhibit to go on show again
 
     
 


An die Schweizer Presse
MUSEE DES BEAUXARTS
MUSEUM OF FINE ARTS
HODLERSTRASSE 812
CH3000
BERN 7
TELEFON 031 328 09 19
FAX 031 328 09 55
MAIL ruth.gilgen@kmb.unibe.ch

LEITUNG KOMMUNIKATION
RUTH GILGEN HAMISULTANE

Pressemitteilung
Bern, den 1. September 2005

Entscheid im Kunstmuseum Bern gefällt
„ Ruan“ zur Diskussion stellen

Die Leitung des Kunstmuseums Bern hat entschieden, das Werk „Ruan“ des chinesischen Künstlers Xiao Yu aus der Sammlung Sigg wieder auszustellen. Für diese Entscheidung massgebend war einerseits die Expertenempfehlung der Podiumsdiskussion. Sie kam zum Schluss, dass das Werk zu zeigen sei, aber in einem Kontext, der die Sensibilität der Besucher respektiere und die Weiterführung des wichtigen Diskurses über die Grenzen der Kunst ermögliche. Andrerseits mussten Abklärungen bezüglich Sicherheitsdispositiv abgewartet werden. Für das Kunstmuseum und den Sammler Sigg ist indes wichtig, dass die Auseinandersetzung mit der einzigartigen Ausstellung Mahjong, welche mehr als 320 Werke umfasst, nicht auf dieses eine Werk reduziert wird.

Die Podiumsdiskussion zum Thema „Die Grenzen des Darstellbaren“ von Experten aus Ethik, Theologie, Recht und Kunst, zeigte das grosse Interesse an der Auseinandersetzung über Fragen der Ethik in der Kunst, aber auch, dass es keine absolut verbindlichen Grenzen gibt. Die Expertenrunde war sich einig, dass die Vorwürfe bezüglich Gewaltdarstellung, Störung des Totenfriedens und Verstoss gegen das Tierschutzgesetz, die gegen das Museum, den Sammler und den Künstler
erhoben wurden, rechtlich gegenstandslos sind. Einigkeit zeigte sich auch über die Wiederausstellung des Werks „Ruan“, in einer Weise, die Rücksicht auf die Sensibilität der Besucher nimmt. Die Museumsleitung machte ihren Entscheid vom Sicherheitsrisiko abhängig, das gemäss den
Empfehlungen der Polizei durch einen kontrollierten Zugang zum Werk zu verantworten ist. In Übereinstimmung mit dem Sammler Uli Sigg entschied die Museumsleitung, das sechsteilige Werk „Ruan“ ab 8. September ausserhalb der Ausstellung, in einem separaten Raum zur Weiterführung des Diskurses zur Verfügung zu stellen. Die vorausgegangene Diskussion wird in diesem Ausstellungsraum dokumentiert und soll fortgesetzt werden können. Am Schluss der Ausstellung wird eine Auswertung der Beurteilungen vorgenommen und der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht
werden.
Dem Kunstmuseum Bern und dem Sammler Uli Sigg ist bei aller Kontroverse daran gelegen, die Auseinandersetzung mit der einzigartigen Ausstellung Mahjong mit über 320 Werken nicht auf dieses eine Werk zu reduzieren.

Den Fragen der Presse über die Wiederausstellung von „Ruan“ wird noch einmal und abschliessend Raum gegeben:
Pressekonferenz, Donnerstag, 8. September 2005, 10h12h
mit Matthias Frehner, Direktor und Bernhard Fibicher, Kurator im dokumentierten Ausstellungsraum „Ruan“ im Kunstmuseum Bern
Anmeldungen erwünscht bis 7.9.05
Die Transkription der Podiumsdiskussion wird zur Verfügung stehen.

Absender:
Kunstmuseum Bern, Presse + Kommunikation, Ruth Gilgen, ruth.gilgen@kmb.unibe.ch
Tel. 031 328 09 19, Hodlerstrasse 812,
3000 Bern 7, www.kunstmuseumbern.ch

http://www.kunstmuseumbern.ch/pdf/050901_PRESSCOMM_Ruan_d.pdf


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Reuters, Aug 26, 2005
Pickled fetus head fuels art furor

ZURICH (Reuters) - A sculpture made with the pickled head of a dead fetus attached to a seagull's body has fueled a furor in Switzerland about the boundaries of art.

Berne's Museum of Fine Arts removed the piece from a Chinese art exhibition earlier this month after a complaint that it was disrespectful to the dead, and following concerns its grisly appearance might traumatize visiting schoolchildren.

The piece, named "Ruan," stole headlines in Swiss newspapers when artist Xiao Yu confirmed that the fetus head was real.

Now the museum's management will decide next week whether to reinstate the work, which sits pickled in a jar of formaldehyde.

"As a result of the complaint it was taken out of the exhibition with the proviso that there would be a debate about the boundaries of art," museum spokeswoman Ruth Gilgen said.

Earlier this week, ethics experts, artists and art lovers argued at a conference in Berne that keeping the work under wraps was an affront to freedom of expression.

Swiss journalist Adrien de Riedmatten, who lodged the complaint, had demanded to know where the head came from.

"The complaint was not about restricting artistic freedom but rather about where this fetus had come from and how the artist found it," Gilgen said.

She said the head had belonged to a fetus conceived sometime in the early 1960s. It was later a museum exhibit.

"It had formed part of an exhibition in formaldehyde in Peking," Gilgen said. "When that came to be renewed, it fell into the hands of the artist."

Concerns that the fetus might have come from a forced, late-term abortion could not be substantiated, Gilgen said.

http://today.reuters.com/news/newsArticle.aspx?type=oddlyEnoughNews&story ID=2005-08-26T171933Z_01_EIC662318_RTRIDST_0_ODD-SWISS-FOETUS-DC.XML


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espace.ch (Der Bund, [24.08.05])
Plädoyer für Kunstfreiheit

Symposium über die Grenzen des Darstellbaren im Kunstmuseum Bern
Die Diskussion um das Fötus-Objekt hat gezeigt, dass es keine verbindlichen Richtlinien für die Grenzen des Darstellbaren gibt. Befürworter einer «Güterabwägung» ebenso wie Verfechterinnen der künstlerischen Freiheit jedoch sind sich einig: Das aus der Ausstellung entfernte Werk muss wieder gezeigt werden.
[image] Die Podiumsdiskussion stiess auf grosses Interesse.
Adrian Moser

Rund 300 Interessierte folgten am Montag Abend der Einladung des Kunstmuseums Bern zur öffentlichen Diskussionsrunde «Die Grenzen des Darstellbaren». Ziel der Veranstaltung war es, das Spektrum der Argumente in der Debatte um das umstrittene Kunstwerk «Ruan» durch die Standpunkte von sieben Fachleuten aus Kunst, Philosophie und Recht zu erweitern. Dies nicht zuletzt im Hinblick auf die zu treffende Entscheidung des Kunstmuseums, ob das vorläufig aus der Ausstellung «Mahjong» entfernte Objekt, das Bestandteil einer Arbeit des chinesischen Künstlers Xiao Yu ist, in Zukunft wieder gezeigt werden soll oder nicht.

Als Urheber des ganzen Rummels hatte der junge Walliser Historiker und Journalist Adrien de Riedmatten zu Beginn der Veranstaltung die Gelegenheit, seine Position erneut darzulegen. Er war es, der vor zwei Wochen Strafanzeige gegen das Museum eingereicht hatte und den Rückzug des Werks «Ruan» aus der Ausstellung verlangte. Dass sich alle drei von de Riedmatten ins Feld geführten Anklagepunkte – rohe Gewaltdarstellung, Störung der Totenruhe und Verletzung der Tierschutznorm – nicht nachweisen lassen, machte im Verlauf des Podiumsgesprächs der Medienjurist und derzeitige Präsident des Schweizer Presserats Peter Studer schnell klar. Gleichzeitig kritisierte dieser aber auch die Retourkutsche des Museums, das seinerseits eine Klage wegen übler Nachrede eingereicht hat, als «mit schwerer Kanone auf Spatzen geschossen».

Dürfen Künstler alles?

Als Jurist führte Studer aber auch den Begriff der Güterabwägung ins Feld, der von Beat Sitter-Liver aufgegriffen wurde. Für den Philosophieprofessor, der Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie ist, gibt es keine abschliessende Antwort auf die Frage, was ein Künstler darf. Jede Kunst sei ethisch relevant, entscheidend sei im Fall von «Ruan», dass der Künstler sein organisches Material nicht zum Zweck des Kunstwerks gewonnen, sprich getötet habe. Ebenfalls zu berücksichtigen sei, was mit dem Kunstwerk geschieht, wenn es in die Gesellschaft entlassen werde: Hier sei eine Art Güterabwägung im Hinblick auf dessen Zumutbarkeit, wie sie im Kunstmuseum stattgefunden habe, unerlässlich (siehe auch untenstehenden Artikel).

Sitter-Livers Feststellung, dass es keine absolute Freiheit der Kunst gebe, stiess innerhalb des Podiums auf Widerspruch, insbesondere bei der Künstlerin Miriam Cahn. «Künstler dürfen alles», ist ihre Meinung, und dezidiert erinnerte sie daran, dass Kunst immer ein Kommentar zur Zeit war und auch sein soll. Dass sie dabei auch die Wissenschaft imitierte, sei nur legitim. Schützenhilfe erhielt Cahn von Ursula Pia Jauch, Philosophieprofessorin in Zürich, die überdies darauf hinwies, dass das Groteske und Bizarre, wie es uns im Mischwesen von «Ruan» begegnet, seine Tradition hat. Auch die Theologin Irene Neubauer führte an, dass Reliquien von Heiligen seit Jahrhunderten in Kirchen gezeigt würden. Sie selbst sei von «Ruan» eher gerührt gewesen und habe eher andere Mensch-Tier-Wesen assoziiert, etwa die Gestalt einer Sphinx.

Ambivalenz und Ratlosigkeit

Das Argument der Kunstfreiheit wurde denn auch vom Publikum mehrmals ins Feld geführt. Kunst dürfe provozieren, was auch von Matthias Frehner bestätigt wurde. Dieser hatte sich allerdings für seine Unkenntnis hinsichtlich der Echtheit des Fötus mehrfach zu rechtfertigen, wobei er sich auf Beispiele hyperrealistischer Kunst und den alten Wettstreit von Realität und Imitation berief.

Einen anderen Zugang zum Verständnis des umstrittenen Kunstwerks eröffneten die Ausführungen der Sinologin Andrea Riemenschnitter. Der Name «Ruan» sei ein Kunstprodukt und bewusst darauf angelegt, verschiedene Bedeutungsebenen anzusprechen, beispielsweise ein vierbeiniges Tier, aber auch Eigenschaften wie Weichheit oder Formbarkeit. Besser fassbar ist die umstrittene «Fötus-Möwe» in ihrer Vielgliedrigkeit dadurch zwar nicht, deutlich wird aber, dass es der Künstler bewusst darauf angelegt hat, die Betrachter der Ambivalenz seines Geschöpfs auszusetzen. In diesem Sinn brachte Ursula Pia Jauch ein wesentliches Element in der ganzen Diskussion auf den Punkt: «Letztlich stellt uns sowohl das Werk, das aus Strandgut unserer Zivilisation besteht, als auch die heutige Manipulierbarkeit von Lebewesen vor eine grosse Ratlosigkeit.»

[i] Weblog des Kunstmuseums zur Weiterführung der Debatte: http://freiheitderkunst.ch

Originalseite als PDF
http://194.209.226.170/pdfarchiv/bund/2005/08/24/19613Kultur20050824_1.pdf


KOMMENTAR

Verunsicherung statt Kompetenz

So komplex die Fragen rund um das Kunstwerk von Xiao Yu sind, eins machte das Podium unmissverständlich klar: wie hilflos und ungeschickt die Verantwortlichen des Kunstmuseums im ersten Moment auf Adrien de Riedmattens Vorwürfe reagiert haben. So verteidigte Matthias Frehner, Direktor des Museums, noch auf dem Podium seine Unkenntnis über die wahre Beschaffenheit der umstrittenen Installation «Ruan» mit der Behauptung, auch Harald Szeemann, der das Kunstwerk 2001 an der Biennale von Venedig zeigte, habe sich nicht weiter mit dem Material auseinander gesetzt.

Ein Griff ins Bücherregal oder ein Anruf beim Sammler Uli Sigg hätten bereits genügt, um sofort Klarheit zu schaffen. Im Katalog der Biennale steht zu Yus hybridem Wesen nämlich Folgendes: « . . . wir entdecken mit Schrecken, dass der Künstler den Kopf eines Fötus, einen Hasen, eine Katze, eine Ratte und sogar Kondome als Augen verwendet hat.» Das war auch Sigg bekannt.

Vor diesem Hintergrund erscheint die erste Reaktion der Verantwortlichen des Museums nicht nur unverständlich, sondern auch äusserst unprofessionell. Denn im Vakuum, das ihre zögerliche Haltung provozierte, konnte sich de Riedmattens medienwirksam inszenierte Empörung unwidersprochen ausdehnen. Ein unmittelbares und klares Bekenntnis zu Yus Kunstwerk und seiner Bedeutung hätte die zentralen Fragen zu den Grenzen des Darstellbaren bereits zu Beginn der Debatte in den Vordergrund gerückt. Ausführlicher wären dann wohl auch jene Überlegungen zur Sprache gekommen, die möglicherweise das abwiegelnde Verhalten des Direktors beeinflusst haben: Frehner erinnerte am Rand des Podiums an die Hirschhorn-Ausstellung in Paris, die dazu geführt hat, dass der Pro Helvetia die Subventionen gekürzt wurden, derweil Christoph Stäublin, Präsident der Museumskommission, verrät, dass der Entscheid, das Kunstwerk zurückzuziehen, nicht einstimmig gefallen sei und seitens der Subventionsgeber keine Vorbehalte laut geworden seien.

Ausstellungsmacher sind meist nicht nur kompetente Kenner der Kunst, die sie zeigen, sondern auch versierte Anwälte ihrer Künstler. So tiefe Verunsicherung, wie Frehner sie wiederholt gezeigt hat, ist nicht kompatibel mit zeitgenössischen Kunstwerken vom Kaliber eines «Ruan», das dringliche Fragen zur Zukunft der Menschheit aufwirft. (Brigitta Niederhauser)

EXTRA

Die Kuratoren nehmen Verantwortung wahr

Sowohl juristisch als auch ethisch ist eine erneute Aufstellung des Kunstwerks «Ruan» vertretbar und möglich. So wird seitens der Untersuchungsrichterin nicht auf die von Adrien de Riedmatten beantragte Einziehung des Werks eingetreten. Ebenso haben die Experten-Statements am Symposium von Montagabend ergeben, dass auch aus ethischer Sicht nichts dagegen spricht, «Ruan» wieder zu zeigen.

Entscheid in einer Woche

Bernhard Fibicher, Kurator der Ausstellung «Mahjong», zeigte sich ob der fast einhelligen Unterstützung, die das Kunstmuseum anlässlich des Symposiums erfahren hat, positiv überrascht. «Wir fühlen uns gestärkt und werden nun das Gespräch intern ausweiten und fortsetzen», sagte er gestern gegenüber dem «Bund».

Ein definitiver Entscheid, der in Absprache mit dem Sammler Uli Sigg, mit der Museumskommission und dem Stiftungsrat getroffen wird, ist jedoch erst Mitte nächster Woche zu erwarten. Bis dahin müsse vor allem die Sicherheitsfrage geklärt werden. Konkret werde untersucht, wie ernst die Drohung aus islamistischen Kreisen aus dem Raum Genf und Frankreich zu nehmen sei, die letztlich den Ausschlag für die Entfernung des Kunstwerks aus der Ausstellung gegeben hatte. Oberste Priorität habe die Sicherheit des Aufsichtspersonals und der Museumsbesucher, aber auch diejenige des Kunstwerks.

Die grundsätzliche Befürwortung aller acht Symposiumsteilnehmer, «Ruan» wieder auszustellen, bestätigt indirekt die von Bernhard Fibicher, Ai Weiwei und Museumsdirektor Matthias Frehner vorgenommene Auswahl an Kunstwerken. Entgegen der am Symposium auch geäusserten Forderung nach totaler Kunstfreiheit differenziert Bernhard Fibicher: «Das Museum als Institution hat hier eine Verantwortung. Wir Kuratoren haben uns sehr wohl überlegt, was wir in der Ausstellung zeigen und was nicht. Es galt, zwischen den subjektiven Kriterien – also der Frage «Was ertrage ich selbst?» – und den Interessen des Publikums abzuwägen.»

Subjektive Grenzen

Viel eher als bei «Ruan» habe man sich etwa im Falle des Fotos von Sun Yuan und Peng Yu, das im gleichen Raum untergebracht ist und einen toten Alten und einen toten Säugling auf einem Eisbett darstellt, Gedanken gemacht, ob es gezeigt werden solle. Schliesslich entschied man sich dafür, hielt die so artikulierte Konfrontation mit dem Tod für zumutbar. Nicht ausgestellt hätte man jedoch das – nicht im Besitz von Uli Sigg befindliche – Video, für das Xiao Yu zwei aneinander genähte lebende Mäuse filmte, ebenso wenig das (im Katalog klein abgebildete) Foto vom Blutkreislauf Siamesischer Zwillinge von Sun Yuan und Peng Yu. Gerade in Grenzbereichen wie der Darstellung von Leichenteilen oder auch von Sexualität seien die Erwägungen des Kurators und das Setzen von Grenzen von grosser Wichtigkeit, betont Fibicher. (ms)

Der Bund, [24.08.05]

http://www.espace.ch/artikel_124598.html


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FAZ, 24. August 2005
Kunst aus China
Signale aus der Umbruchgesellschaft
Von Hans-Joachim Müller, Bern

[image] Fang Lijun: Ohne Titel, 1995
24. August 2005 Die Kunst darf alles, sagt die Künstlerin. Einspruch, sagt der Ethikprofessor, die Kunst darf überhaupt nicht alles. Und es klingt ein bißchen wie beim Streit zwischen Vater und Tochter, wie lang heute abend Ausgang ist.

Dabei wäre es ja durchaus spannend, einmal zu erfahren, was die Kunst nun wirklich darf - bündig, schlüssig, gesetzespraktikabel. Aber soviel ist von einem Podium wohl nicht zu erwarten, das kühn die Grenzen des Darstellbaren angepeilt hat und nicht weiter kommt als bis zu den Grenzen des Zumutbaren. Daß sich Kunst womöglich doch nicht an ihre Grenzgebote halten würde, das ahnten alle, die an diesem Abend im Berner Kunstmuseum zusammengekommen waren, um über das Schicksal eines kleinen Kunstmonsters zu befinden, das einen erregungstüchtigen Internetjournalisten zur Strafanzeige gegen das Museum bewogen und es gezwungen hat, das Corpus delictum aus seiner Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst zu entfernen.
[image] Liu Wei: It looks like a landscape, 2004

Echte tote Möwe, echter toter Fötus

Schon wahr, die Hybridbestandteile sind echt. Echte tote Möwe, echter menschlicher Fötus. Sind das zulässige Baumaterialien für ein Kunstobjekt - welcher Gesinnung auch immer? Daß ganze Publikumsscharen an dem Werk des Künstlers Xiao Yu vorbeigezogen sind, als es im Jahr 2001 auf der Biennale in Venedig, in Harald Szeemanns Ausstellung „Plateau der Menschheit”, gezeigt wurde, ist kein Argument gegen den spät geborenen Verdacht und schon gar kein Einwand gegen das unstillbare Bedürfnis, ein wenig Erträglichkeitssicherheit auch in die ästhetischen Belange zu bekommen.

Sind die Grenzen des Darstellbaren schon mit dem toten Christus am Kreuz erreicht? Oder doch mit dem Original-Fötus, den die Mexikanerin Teresa Margolles (siehe auch: Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zeigt Teresa Margolles) in einen Betonquader gegossen hat? Oder vielleicht erst mit der eingelegten Kuh-Hälfte des Damien Hirst? Und sind die Grenzen überschritten, wenn Xiao Yu narkotisierte Mäuse zusammennäht und von ihrem Gezappel ein Video dreht? Tierversuch mit Kunstvorbehalt? Einspruch, sagt der Ethikprofessor (Beat Sitter). Klarer Verstoß gegen die verfassungsgeschützte „Würde der Kreatur”. Aber wer weiß denn, sagt die Künstlerin (Miriam Cahn), ob das alles so stimmt, was der Künstler so sagt. Gehört nicht gerade die böse Verunklärung, die Falschspurenlegung zu seinem angestammten Metier? Wäre alles nur halb so schlimm, wenn Fötus und Möwe hyperrealistische Nachbildungen wären? Wenn sich, wie Museumsdirektor Matthias Frehner gehofft hatte, der Schrecken in der Erkenntnis seines Scheingrunds kathartisch auflösen könnte?
[image] Sun Yuan: Honey 1999

Böse Verunklärung?

Nichts hat sich aufgelöst. Allenfalls die Hoffnung, Xiao Yu könnte seine künstlerische Fötus-und-Möwe-Verwertung beißend kritisch gedacht haben, als strengen Kommentar zu Genmanipulation und anderen Ausgeburten der Laborneugier. Da mußte nun die Sinologin (Andrea Riemenschnitter) ihrerseits Einspruch erheben. „Ruan”, der Werktitel, sei aus frei erfundenen Schriftzeichen gefügt, die auf offene, leere Bedeutungsfelder wiesen. Nichts, auch nicht die Selbstaussagen des Künstlers rechtfertigten die Interpretation. Also doch böse Verunklärung, Falschspurenlegung?

Könnte das Problem einfach darin bestehen, daß „Ruan” keineswegs in der geordneten Zeichenwelt aufbewahrt und - vorerst - das beunruhigend Unverstandene geblieben ist? Kunst ist grausam. Sie zeigt mit Vorliebe die Bilder, die nicht sein dürfen. Daß man sie deswegen wegsperren möchte, ist ein plausibler Reflex. Daß man sie wegsperrt, weil man befürchten muß, wie Frehner freimütig bekennt, der Skandal könnte die öffentliche Subventionierung des Museums gefährden, das ist in Wahrheit viel skandalöser als das eingeglaste Vormenschenköpflein.
[image] Wang Guangyi: Ohne Titel, 1986

Vulkanische Epoche

Dabei hätte die Ausstellung entschieden verdient, daß man nicht bloß über ihre kunstüblichen Blasphemien, Thrills und Schocker herfällt. Was die Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst, die der Schweizer Uli Sigg in knapp zwei Jahrzehnten zusammengetragen hat (rund 1200 Werke), einzigartig macht, ist ihr enzyklopädischer, man müßte fast sagen, ihr systematischer Anspruch. Sigg - ehemals Schweizer Botschafter in Peking - konzentriert sich nicht auf bestimmte Werke, nicht auf eine begrenzte Anzahl von Künstlerpersönlichkeiten, er sammelt mit gleichsam dokumentarischem Gewissen, sammelt als Archivar einer offensichtlich vulkanischen Epoche.

Daß bei allen Angleichungen, Anpassungen die Kunstwelt doch nicht oder noch nicht eine ist, wird in dieser Ausstellung immer wieder anschaulich. Ohne kulturellen Kontext, ohne Kenntnisse der Mao- und Nach-Mao-Geschichte, ohne Erfahrungen mit den Tabus und Sprachregelungen der jüngeren Generation, ohne Augenschein der Umbruchgesellschaft bleibt vieles verschlossen - und erscheint gerade deshalb so faszinierend. Wie Ai Weiwei zum Beispiel einen ganzen Raum mit viertausend, fünftausend Jahre alten neolithischen Vasen vollstellt, die er in deutlicher Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze mit weißer Farbe übermalt hat („Whitewash”), das ist ein starker Kommentar zur Geschichtsvergessenheit in der Wachstumseuphorie.
[image] Zhang Xiaogang: Bloodline Series, 1997

Mit dem Discountwort vom „Reich der Mitte” ist jedenfalls nichts anzufangen. Nichts, überhaupt nichts zeugt in dieser Ausstellung von Mitte. Alles ist Schieflage, Gefälle, Abgleiten, Haltsuche, Erregung. Konfuzianische Bescheidung in die vorgezeichneten Wege des Menschen sollte man also nicht erwarten. Die Künstler, die Uli Sigg versammelt, erzählen von der Unpassierbarkeit der vorgezeichneten Wege, von der Auflösung der Ordnungen, vom Traum des selbst bestimmten Lebens. Und das ist dann doch noch einmal spannender als der Verständigungsversuch über die Grenzen des Darstellbaren.

Kunstmuseum Bern, bis 16. Oktober. Der Katalog, erschienen bei Hatje Cantz, kostet 65 Franken.

Text: F.A.Z., 24.08.2005, Nr. 196 / Seite 35
Bildmaterial: Kunstmuseum Bern / Courtesy of Sigg Collection

http://www.faz.net/s/RubEBED639C476B407798B1CE808F1F6632/Doc~EACB4CB7B2
1D748A7A1DC860E1AFBF90F~ATpl~Ecommon~Scontent.html


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swissinfo, 1. September 2005 16:11
Controversial art exhibit to go on show again
[image] The controversial work of art will be on show again from next Thursday (Keystone)

A Chinese artwork featuring the head of a human foetus grafted onto a seagull's body is to go on display again after being withdrawn from an exhibition in Bern.

The decision by the Bern Fine Arts Museum comes just over a week after a group of experts decided there were no legal or ethical grounds for banning it.


The work forms part of the Mahjong temporary exhibition of 340 pieces of contemporary Chinese art, which has been on show at the museum since June 12.

It was withdrawn in August following an official complaint by Adrien de Riedmatten, a former candidate for the rightwing Swiss People's Party, who claims the work is disrespectful to the dead.

Museum officials have since responded with a counter complaint against de Riedmatten for defamation over allegations made on his website.

De Riedmatten was present at the expert discussion last week, which was open to the public. His complaints that the work could be of criminal origin and had traumatised young visitors to the exhibition were brushed aside by the panel.

The exhibition curator, Bernard Fibicher, said he was surprised by the unanimity shown by the experts, who included theologians, lawyers, philosophers and art historians.

But Andrea Riemenschnitter, a professor at the East Asia department of Zurich University and one of the panellists, told swissinfo there had been a range of opinions expressed.

"Our opinions were not that unanimous but as a group we probably had to come up with this decision because there are so many intricate problems in not exhibiting after first starting to do so," said the sinologist.

Different perspectives

Peter Studer, the president of the Swiss Press Council, said that while the panellists all had "different perspectives" on the issue, they had ultimately agreed on the need to find a way of reinstalling the controversial object.

"There were those who said that art has to be free under all conditions and in all circumstances, and there were those who said no, freedom of art is in the constitution but it has to be balanced against certain other fundamental rights like human dignity and the dignity of animals," he explained.

Studer, who was the legal expert on the panel, told swissinfo there was no justification under Swiss law for withdrawing the object.

He rejected de Riedmatten's claims that the object had been produced as a result of violence, that the peace of the dead had been disturbed and that animals had been tortured.

Under Swiss law a foetus is not considered to be a person, Studer said, so it was not appropriate to speak of the peace of the dead being disturbed. The foetus had been acquired from a medical exhibition in China, while the bird had been found dead in a park.

For her part, Riemenschnitter said it was wrong to make a link between the foetus and China's much criticised abortion policy. The foetus was decades old, she said, predating the one-child policy.

Both conceded that the object could offend some people's sensibilities or be distasteful to them, with Riemenschnitter pointing out that in China it would be considered an example of degenerate art.

"This exhibit hasn't been on display on China and wouldn't be shown because of Chinese aesthetic standards," she said.

"One always has to make the distinction between taste, ethics and law," Studer concluded. "The opponents of this exhibit have not made this distinction."

swissinfo, Morven McLean

http://www.swissinfo.org/sen/swissinfo.html?siteSect=111&sid=6054757&cKey=1125583719000

 

 

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with kind regards,

Matthias Arnold
(Art-Eastasia list)


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