August 26, 2005:

[achtung! kunst] «Ruan» back to Mahjiong
 
     
 


Neue Zürcher Zeitung, 24. August 2005
Spiegel unserer Werte und Normen
«Ruan» und die Beziehung des Menschen zum Tier

Die Skulptur «Ruan» von Xu Yu, ein Präparat aus dem Körper einer Möwe und dem Kopf eines menschlichen Fötus, die bis vor kurzem im Kunstmuseum Bern zu sehen war, hat Diskussionen ausgelöst. Abweichungen von der Norm - oder auch von der Moral - üben immer eine Faszination aus. Auch Wissenschafter untersuchen und katalogisieren das Abnorme. Dazu dienen diverse Formen von Präparaten. Dabei stellt sich die Frage, ob ein präparierter Körper zu einem Gegenstand wird, der ausgestellt werden darf.

Der Mensch hat im Verlaufe seiner Geschichte ein sehr heterogenes Verhältnis zu sich und dem Tier entwickelt. Stand vor Jahrtausenden ein mystisches Verbundensein im Vordergrund - das sich wiederfindet in der Benennung «Animal», in der die Anima mitschwingt -, distanzierte sich der Mensch später immer mehr vom Tier, domestizierte seine Wildheit und bestialisierte es. Das Humane und das Tierische wurden zu Gegensätzen und normativen Begriffen. Damit trat der Mensch in den «Teufelskreis des anthropozentrischen Humanismus» (Claude Lévi-Strauss) und grenzte grosse Teile der Lebewesen aus. Heute neigen Wissenschaft und Technik dazu, Tiere, aber auch Menschen als Rohmaterial zu sehen, das verändert und manipuliert werden darf. So muss sich der Mensch heute nicht mehr vom Animal abgrenzen, sondern von Maschinen, Robotern und seinen Klonen.

Die Stellung der einzelnen Arten hängt davon ab, in welcher Beziehung das Tier zur Gesellschaft steht. Ob zum Beispiel ein Bernhardinerhund gegessen werden darf oder nicht, hängt nicht von der Qualität des Fleisches ab, sondern von der Bedeutung des Hundes in der Gesellschaft.
Norm und Abweichung

Mit dem «Prozess der Zivilisation» (Norbert Elias) überträgt der Mensch Normen des Züchtens und Zähmens auch auf sich selber. Wird das Individuum durch Verbote (z. B. Inzucht) und Strafen domestiziert, gelten für die Gesellschaft Gesundheitsregeln, Sicherheitsnormen und Tabus. Normen sind kultur- und zeitabhängig. Konstant ist dabei die Faszination für das Abweichende, für das Genie ebenso wie für den Idioten, für Riesen wie Zwerge, Missgeburten, siamesische Zwillinge und Zwitterwesen. In Wunderkammern wurden seltene Exemplare gesammelt und auf Jahrmärkten «ausserordentliche Wesen» als Attraktionen herumgezeigt.

Auch die Wissenschaft interessiert sich für Abweichungen. In medizinischen und naturhistorischen Sammlungen werden Tausende von toten Körpern konserviert, präpariert und gesammelt. Paradoxerweise, um das Leben zu erklären. Die dabei angewandten Techniken sind abhängig von Zeit, Kultur und Religion: Im alten Ägypten wurden in Mumien Haut und Eingeweide konserviert, in Ozeanien wurden die Schädel der Ahnen konserviert, in katholischen Beinhäusern lagern die Reliquien der angeblich Heiligen, Feuchtpräparate bewahren Körper in einer Lösung aus Alkohol und Formalin, und in neuster Zeit werden Körperflüssigkeiten durch Kunststoffe ersetzt. Dadurch entstehen «Plastinate», pflegeleichte und dauerhafte anatomische Modelle des menschlichen Körpers, die der Präparator Gunter von Hagen massenwirksam zur Schau stellt.

Diese Präparate, die das Leben aus dem Prozess der Verwandlung herauslösen und einem fotografischen Moment gleich konservieren, wecken die Illusion der Unvergänglichkeit. Aber so gut sie auch sind, sie atmen den Duft des Todes und hinterlassen Unbehagen. Dabei werfen alle Präparate dieselbe Frage auf: Wird der präparierte Körper ein Gegenstand, darf er ausgestellt werden, bewahrt er die Seele des Verstorbenen? Um eine Antwort darauf geben zu können, spielen der Kontext und die Qualität der Inszenierung eine grosse Rolle. So wird die Präsentation eines Wildtieres, z. B. eines ausgestopften Steinbocks, in einer naturhistorischen Ausstellung im Alpenraum kaum Entsetzen auslösen. Die Irritation wächst jedoch bei der Präsentation toter Haus- und Nutztiere, und sie steigert sich nochmals bei menschlichen Präparaten. Zwei Feuchtpräparate von Embryonen mit roter Färbung zur Sichtbarmachung der Knochenanlagen, die 1939 an der Landesausstellung ausgestellt wurden, veranlassten aber niemanden zur Klage.

In der Skulptur von Xu Yu, die derzeit Anlass einer grösseren Debatte ist (NZZ 9. 8. 05), verschmelzen ein menschlicher Embryo und ein Vogel zu einem Fabelwesen. Die Praxis der Appropriation ist in der Kunst weit verbreitet. Damien Hirst oder Rémy Markowitsch bedienen sich ihrer in unterschiedlichster Form. Während der chinesische Künstler Yu sich damit rechtfertigt, zwei toten Wesen, die achtlos weggeworfen worden waren, ein neues Leben geschenkt zu haben, weckt das hybride Wesen im westlichen Betrachter eine tiefe Skepsis gegenüber dem Machbarkeitswahn, wie ihn Mary Shelly 1818 in «Frankenstein» antizipierte.
Die instrumentalisierte Kreatur

Die Beziehung zwischen dem Tier und dem Menschen ist heute vielfältig und komplex. Tiere gelten als Heilige oder als Nutztiere und werden in der Werbung und in den Massenmedien instrumentalisiert. Die Kultur der Heuchelei macht auch vor ihnen nicht Halt. Der Appetit nach Fleisch ist heute so gross wie nie zuvor. Gestillt wird er durch möglichst billige Züchtung, Haltung und Schlachtung, Vorgänge, die aus dem Blickfeld einer zivilisierten urbanen Bevölkerung an den Rand der Wahrnehmung gedrängt werden.

Wenn es dem Journalisten und Ankläger de Riedmatten in Sachen «Ruan» um Gewaltdarstellung, Störung des Totenfriedens und Verletzung des Tierschutzgesetzes ginge, böte sich ihm hier ungleich mehr Anlass, sich zu beschweren, als am Kunstobjekt, das in einem sorgfältig gewählten Kontext präsentiert wird. Und auch die überzähligen Embryonen aus künstlichen Befruchtungen, die in den Kühllagern der Labors auf ihr Schicksal warten, sind längst Realität.

In der Diskussion um das Fabelwesen «Ruan» bleibt schliesslich noch die Frage nach der Nützlichkeit - cui bono? Cicero betonte in seinen Schriften, dass das Nützliche und das Ehrenhafte eng aufeinander bezogen sind. Ehre und Selbstachtung sind dort besonders wichtig, wo wir es mit Wesen zu tun haben, die abhängig und verletzbar sind. Hoffen wir, dass es de Riedmatten um die ausgenützte Kreatur geht und nicht um eine Inszenierung der eigenen Person.

Kaba Rössler

Die Autorin ist Historikerin und hat die Ausstellung «Tierisch nützlich - Züchten und Zähmen von Mensch, Tier und Natur» kuratiert, die bis zum 23. Oktober im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz zu sehen ist (www.domestikation.ch).

http://www.nzz.ch/2005/08/24/fe/articleD2SMN.html


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swissinfo, August 22, 2005 2:22 PM
Art collector defends controversial exhibit
[image] Xaio Yu's work has caused controversy in Switzerland (Keystone)

The owner of an art exhibit containing the head of a foetus talks to swissinfo about the controversy surrounding the object's display at Bern's Fine Arts Museum.

Art collector Uli Sigg, a former Swiss ambassador to China, was speaking after the museum withdrew the exhibit in response to a complaint, and set up the panel to discuss the work.


Sigg said that the piece of art had been shown before – at the Venice Biennale in 1999 – without controversy.

Bern's Fine Arts Museum has temporarily withdrawn the work, which features a foetus head attached to a seagull's body, from a temporary exhibition of 300 pieces of contemporary Chinese art.

It also instigated a debate by experts on the ethical issues surrounding the piece. That discussion took place on Monday.

The move follows an official complaint made earlier this month by Adrien de Riedmatten, a journalist and former candidate for the rightwing Swiss People's Party, who claims the work is disrespectful to the dead.

Museum officials have since responded with a counter complaint against de Riedmatten for defamation over allegations made on his website. Sigg says he is not involved in this legal action.

swissinfo: Are you surprised by the controversy over the exhibit?

Uli Sigg: I am surprised because this work has been shown previously without any reaction. Thousands have seen it without ever complaining about its form or content. In Bern there has been only one individual... so I see it basically as the reaction of one individual.

Of course the work is controversial, of course it causes discussion - that's its purpose. But to go much further and make a complaint against the artist, the museum, and the collector and make it in public with many wrong sentiments and statements - that is beyond my expectations and beyond what I would call a reaction to an artwork.
[image] Uli Sigg has defended the artwork (swissinfo)

swissinfo: Do you think there is any chance of this complaint being successful?

U.S.: I can't see how it could be successful. It's not based on a legal judgement. It's just a subjective, personal, moral point of view.

swissinfo: What did you think of the museum's decision to temporarily remove the exhibit?

U.S.: We have jointly discussed it. Since the museum is responsible for its exhibition and the works, I feel it should be their decision. But I understand their decision to take the work away temporarily.

swissinfo: How did you come to purchase the work?

U.S.: I saw the work in the artist's home in Beijing several years ago and having known the artist for a long period, knowing his thinking and what he's researching, I found this to be a quite interesting work.

At that time a group of artists produced a number of works about death and life and this work has to be seen within this context.

I bought it because my collection should mirror the whole spectrum of what Chinese artists are doing. And since this group of artists had a significant impact, particularly on the discussion on the limits of contemporary art, it was logical to include it in the collection.

swissinfo: Are you worried that the controversy about this exhibit will overshadow the rest of the exhibition?

U.S.: This is an exhibition which shows much more about Chinese contemporary life than just this particular facet... It is a first in the western world with this volume and depth of [contemporary] Chinese art, so it's a pity people just talk about that [exhibit] and not the many other works.

swissinfo-interview: Isobel Leybold-Johnson

http://www.swissinfo.org/sen/swissinfo.html?siteSect=105&sid=6017791


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Kunstmarkt.com/Ulrich Raphael Firsching, 23.08.2005
Fötus-Skulptur soll in Berner Schau wieder gezeigt werden

Das umstrittene Kunstwerk „Ruan“ von Xiao Yu in der Berner Ausstellung „Mahjong – Chinesische Kunst aus der Sammlung Sigg“ soll wieder aufgestellt werden. Das war das Ergebnis eines Symposiums, dass das Kunstmuseum Bern mit Vertretern aus Theologie, Ethik, Kunst, Sinologie, Rechtwissenschaften und Philosophie gestern in seinem Haus veranstaltet hat. Die Experten waren sich in der abschließenden Diskussion einig, das die seit Anfang August aufgrund einer Klage des 29jährige Journalisten, Historikers und Mitglieds der Jungen Schweizerischen Volkspartei, Adrien de Riedmatten, entfernte, mehrteilige Skulptur wieder in die Ausstellung integriert werden soll. Der Unmut an der Arbeit des 1965 geborenen Chinesen erregte sich an einem Zwitterwesen aus menschlichen und tierischen Teilen. Xiao Yu hat den Kopf eines toten Fötus auf den Körper einer Möwe gepflanzt, die Verbindung in Präparateflüssigkeit gelegt und dann in einem Glas dem Publikum dargeboten.

An dem öffentlichen Symposium, das von rund 300 Personen mitverfolgt wurde, nahmen die Künstlerin Miriam Cahn, die Philosophin Ursula Pia Jauch, die Theologin Irene Neubauer, die Sinologin Andrea Riemenschnitter, der Ethiker Beat Sitter-Liver, der Jurist Peter Studer und Matthias Frehner, Kunsthistoriker und Direktor des Kunstmuseums Bern, teil. Obwohl differenziert und kontrovers diskutiert wurde, waren sich die Teilnehmer in der Schlussrunde unerwartet aber nuanciert einig, dass das Werk in die Ausstellung gehöre, allerdings in einem Rahmen, der die Sensibilität der Ausstellungsbesucher respektiere. Die abschließende Plenumsdiskussion unterstützte mehrheitlich die Meinung des Podiums.

Die Museumsleitung wird nun nach der Auswertung der Diskussion und weiteren Gesprächen mit dem Stiftungsrat, mit dem Sammler Uli Sigg, aus dessen Sammlung alle Exponate der Ausstellung stammen, aber auch mit der Polizei bezüglich den Sicherheitsrisiken entscheiden, ob und wie das Werk wieder in die Ausstellung eingebunden werden kann. Inzwischen wurde die Klage de Riedmattens wegen „Gewaltdarstellung“, „Störung des Totenfriedens“ und „Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz“ vom Untersuchungsrichteramt zurückgewiesen. Das Kunstmuseum Bern hat seinerseits nun Anzeige gegen Adrien de Riedmatten wegen „Verleumdung“ gestellt.

http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id83837-/news_detail.html

 

 

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with kind regards,

Matthias Arnold
(Art-Eastasia list)


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http://www.fluktor.de


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