August 04, 2005:

[achtung! kunst] Mahjong (yet again)
 
     
 


tagesspiegel, 30.07.2005
Schriftzeichen aus dem Untergrund
Umbruch im Reich der Mitte: der Schweizer Uli Sigg und seine Sammlung
aktueller chinesischer Kunst
Von Claudia Spinelli

Wer Uli Sigg in seinem privaten Wohnsitz besucht, muss eine kleine
Brücke passieren. Sie führt über einen See, in dessen Mitte sich eine
Insel mit einem stattlichen Bau befindet: Schloss Mauensee. Mit den
diagonal gelbrot gestreiften Fensterläden beschwört die Anlage Bilder
von Landsknechten und wackeren Eidgenossen herauf. Einzig die
monumentale, aber kopflose Maobüste lässt ahnen, dass hier kein
Abkömmling einer lokalen Patrizierfamilie wohnt, sondern eine weit
gereiste Persönlichkeit mit einem alles andere als gewöhnlichen Hintergrund.

Der Hausherr, der das Anwesen gemeinsam mit seiner Frau Rita – einer
Ärztin – erst seit ein paar Jahren bewohnt, ist ein höflicher,
zurückhaltender Mann. Wenn die Kameraverschlüsse der Pressefotografen
klicken, posiert er geübt, aber ohne erkennbare Eitelkeit. Der ehemalige
Schweizer Sonderbotschafter für China kann sich Gelassenheit leisten: er
hat eine einzigartige Sammlung im Rücken.

1200 Arbeiten von rund dreihundert jüngeren chinesischen Künstlern hat
der heute 59-Jährige in den letzten fünfzehn Jahren zusammengetragen.
Seine Sammlung dokumentiert den aktuellen Umbruch im Reich der Mitte.
Einen Umbruch, der nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich und
gesellschaftlich so massiv ist, dass man von einer Revolution sprechen
könnte. Um die Dimension der Sammlung zu begreifen, muss man sich vor
Augen führen, dass die bevölkerungsreichste Nation dieser Erde selbst
über keine nennenswerte Kollektion ihrer Gegenwartskunst verfügt. Bis
vor ein paar Jahren produzierten die chinesischen Künstler im Geheimen;
ihre Werke wurden außer in privaten Künstlerkreisen ausschließlich im
Westen rezipiert.

Die fast unsichtbaren Landschaften von Qui Shihua, die kahlköpfigen
Humanoiden von Fang Lijun oder die in blutigen Rottönen gemalten Körper
von Yang Shaobin, um nur einige der bekanntesten Vertreter des aktuellen
Chinabooms zu nennen, sind mittlerweile auch dem westlichen
Kunstpublikum ein Begriff. Sigg, der von 1980 bis 1991 als Vizepräsident
der Schindler China-Elevator Co. (des ersten Joint- Venture-Unternehmens
zwischen China und Europa) und von 1995 bis 1998 als Sonderbotschafter
der Schweiz in Peking lebte, konnte die Werke zu einem Bruchteil ihres
heutigen Preises erwerben. Er ist indes nicht nur Nutznießer des
Chinatrends, sondern einer seiner aktivsten Promoter. Ein Charles
Saatchi der chinesischen Kunst?

Sigg winkt ab. Er sammle chinesische Kunst nicht aus Spekulation,
sondern weil ihm die Kultur des Landes ein Anliegen sei. Es sei ihm
nicht darum gegangen, einzelne Positionen hochzujubeln (und dann, wie
Saatchi in Großbritannien, wieder fallen zu lassen), sondern er habe den
Anspruch gehabt, eine Aufbruchbewegung möglichst breit abzubilden. „Von
vielen Künstlern besitze ich nicht mehr als ein oder zwei Werke“, führt
er aus. „Und es waren nicht immer nur qualitative Kriterien, die mich zu
einem Ankauf bewogen.“ Was Sigg in seinem Schoss und in seinen Lagern
hortet, ist ein Stück chinesische Geschichte, die ohne ihn längst in
alle Winde zerstreut wäre.

Tatsächlich setzte der künstlerische Aufbruch, der mit der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Öffnung Chinas Hand in Hand
geht, in den ersten Jahren nach Maos Tod 1976 nur zaghaft ein. Die
Künstler, die vorher mit scharfen Restriktionen zu kämpfen hatten,
begannen langsam ihre eigene Sprache zu entwickeln, vieles von dem, was
interessant und neu war, ereignete sich im Untergrund. Mit der
Demokratiebewegung und ab 1998, nach dem Debakel auf dem Platz des
himmlischen Friedens, artikulierten sich die chinesischen Künstler indes
immer deutlicher. So fiel Siggs zweiter China-Aufenthalt als
Sonderbotschafter in eine äußerst fruchtbare Zeit.

Bis vor kurzem gab es indes keine lokale Sammlerschaft. Galeristen wie
beispielsweise Lorenz Helbling engagierten sich zwar in Shanghai,
verkauften ihre Ware aber fast ausschließlich ins Ausland. Sigg erkannte
die gesellschaftliche Bedeutung seiner Sammlungstätigkeit schnell. Er
veränderte seine Kriterien und verbreiterte seinen Fokus. Wenn er im
Kunstmuseum Bern zur Eröffnung der Ausstellung „Mahjong“ mit 340 Werken
aus seiner Sammlung erklärt, dass es ihm ein zentrales Anliegen sei, den
Westeuropäern einen Einblick in die „chineseness“ zu vermitteln, ist das
zwar glaubhaft. Doch viele der ausgestellten Werke können ohne
entsprechende Hintergrundinformationen kaum gewürdigt werden, so dass
die Ausstellung als Ganzes weniger aufklärt als die Komplexität der
Situation überhaupt erst vor Augen führt. Den kalligraphischen Zeichen
von Xu Bing zum Beispiel ist nicht anzusehen, dass sie erfunden sind.
Die Insistenz, mit welcher der Künstler Papierbahn um Papierbahn mit
Schriftzeichen füllt, vermittelt gleichwohl eine Ahnung von der
Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit der Tradition.

Tradition, Kommunismus und Kapitalismus sind die Kardinalsthemen der
Ausstellung, in der das Figurative dominiert. Chinesische Künstler
arbeiten kaum je selbstreferenziell: der gesellschaftliche Kontext kommt
immer vor. Manche Positionen spiegeln neben der eigenen Lebenswelt auch
den Einfluss des Westens. Insbesondere bei Positionen, die auf den
ersten Blick als chinesisch identifiziert werden können, wird man den
Verdacht nicht los, dass eine Reihe chinesischer Künstler mit auf den
internationalen Markt gerichtetem Dollarblick arbeiten, Konsequenz einer
globalen Öffnung.

Diese mag zwar postkoloniale Züge tragen (in der Regel sind es westliche
Kuratoren, die bestimmen, welche chinesischen Künstler in die
internationale Kunstwelt Eingang finden), aufzuhalten ist sie nicht
mehr. Und man würde Sigg gründlich missverstehen, wenn man ihm
unterstellte, ihm sei die Problematik seiner Tätigkeit nicht bewusst. In
der Jury des von ihm ins Leben gerufenen Kunstpreises zum Beispiel saßen
neben Harald Szeemann und der New Yorker PS1-Direktorin Alanna Heiss
ganz selbstverständlich auch der in Paris lebende chinesische Kurator Hu
Hanrou und der Pekinger Künstler Ai Weiwei.

Mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg. Kunstmuseum
Bern, bis 16. Oktober. Katalog 65 SFr.

http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/30.07.2005/1962599.asp

 

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with kind regards,

Matthias Arnold
(Art-Eastasia list)


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